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Jupp Heynckes im Exklusiv-Interview bei Bolzplatzkind: "Was soll aus dem Jungen bloß einmal werden?“

Mönchengladbach. Normalerweise gibt Jupp Heynckes keine Interviews mehr. Vielleicht, weil er raus ist aus dem Fußballgeschäft. Vielleicht, weil es nichts mehr zu sagen gibt. Denkt man. Doch was wissen wir eigentlich aus der Kindheit vom großen Erfolgsmenschen Heynckes, was wissen wir von seinen Eigenschaften, die ihn zu dem gemacht haben, der er heute ist. Einer der besten Stürmer, einer der besten Trainer. Nach unserem exklusiven Interview mit dem Triplesieger von 2013 waren wir beeindruckt. Die Zeilen lesen sich wie die 10 Gebote des Erfolgs. Ein Sammelsurium an Erkenntnissen, die fürs Leben lehren. Und das Interview mit Bolzplatzkind gibt Einblicke in die Welt der Nachkriegszeit. Einblicke in jene Zeit, in der Jupp Heynckes seine ersten Erfahrungen auf und neben dem Platz machte. Es hat Gründe, warum der Welt- und Europameister nicht polarisiert, warum er vereinsübergreifend verehrt wird. Es sind seine ganz speziellen Eigenschaften, die in den folgenden Antworten für jeden sichtbar werden. 

 1. Jupp, du bist am 9. Mai 1945 geboren worden. Am Tag des Sieges über die Nationalsozialisten. Mit dem Start deines Lebens baute sich auch Deutschland wieder auf. Welche Parallelen siehst du in deiner Erfolgsgeschichte und der Deutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg?

 Jupp Heynckes: Der Istzustand nach dem Kriegsende war geprägt von Zerstörung, Hunger, Verzicht, Demut - vom täglichen Überlebenskampf und dem Willen, wieder etwas Normalität im Leben zu finden. Mit den Trümmerfrauen sind die Beseitigung der Kriegsschäden und der Wiederaufbau Deutschlands verbunden. In dieser kargen Zeit wuchs ich auf und war wie alle anderen Menschen im Lande froh, wenn ich etwas zu essen hatte. Es ging darum, den Augenblick zu meistern. Diese existenzielle Herausforderung empfanden wir - das war das Phänomenale - als normal, wir vermissten nichts und suchten uns nebenher Nischen, um unsere Lebensfreude zu steigern: Ich fand dafür den Fußball, der mir Abwechslung vom harten Alltag und Spaß bot. Ich entwickelte dabei aber zudem den Ehrgeiz und die Beharrlichkeit, welche die Menschen in der unmittelbaren Nachkriegszeit auszeichneten: niemals aufzugeben und nie zu resignieren, um aus dieser fürchterlichen Misere nach dem Zweiten Weltkrieg herauszukommen.       

 2. Wirklich spannend. Wie sah so ein Tag als Bolzplatzkind in der Nachkriegszeit aus?

 Heynckes: Wir hatten zu Hause zwei Schweine, die wir das Jahr über fütterten, um sie dann zu schlachten, damit wir zu essen hatten. Die Schweinsblasen wurden zu unseren ersten Bällen, auch Bälle aus Stoff und später aus Plastik hatten wir. Für die drei, vier Meter breiten Tore auf unserem Bolzplatz mussten wir improvisieren, die Pfosten bildeten Kleidungsstücke, Steine oder Holzlatten, die wir in den Boden rammten. Querlatten und Netze gab es natürlich nicht. Wir spielten meist drei gegen drei oder vier gegen vier. Und wenn keine Spielkameraden da waren, kickte ich allein. Stundenlang schoss ich in unserem Hinterhof den Ball gegen eine Hauswand oder jonglierte den Ball. Irgendwann sagte meine Mutter schon fast verzweifelt: "Was soll aus dem Jungen bloß einmal werden?"  

 3. Wahnsinn. Ich habe das alles bildlich vor Augen. Wie ging es abseits des Bolzplatzes weiter mit dem Fußball, welches Spiel hast du das erste mal im TV gesehen?

 Heynckes: Das WM-Endspiel 1954, den 3:2-Sieg der deutschen Mannschaft gegen Ungarn. Zuvor war ich bei einer kirchlichen Prozession, die von meinem Heimatdorf Holt fünf Kilometer entfernt stattfand. Weil wir sonst den Anpfiff des Finales verpasst hätten, liefen wir Jungs vorzeitig von dieser Prozession weg und zu einem großen Saal zurück nach Holt, um auf jeden Fall pünktlich zu sein. 150 Leute saßen da vor einem 30 mal 30 Zentimeter Mini-Bildschirm, die Erwachsenen auf Stühlen, wir Kinder lagen davor auf dem Boden. Der WM-Gewinn wurde natürlich auch für uns zu einem Freudenfest, er war Balsam für die deutsche Seele nach den unbeschreiblichen Schrecken des Krieges.   

 4. Das glaube ich. Nach all den Jahren der Entbehrungen hat man „gemeinsam“ etwas gewonnen, etwas zurückbekommen. Das war also dein erstes Spiel im Fernsehen. Wo warst du das erste Mal im Stadion und wie hast du es erlebt?

 Heynckes: Es war am 5. Oktober 1960, Pokal-Endspiel zwischen Borussia Mönchengladbach und dem Karlsruher SC im Düsseldorfer Rheinstadion. Ich durfte damals Albert Brülls, den seinerzeit besten Spieler und Stern am Fußball-Himmel, live sehen. Er war Nationalspieler und im vorderen Mittelfeld postiert, wie heute etwa Marco Reus. Die Borussia führte 1:0 und 2:1, der KSC glich aus, es war Dramatik pur - ehe Brülls den 3:2-Siegtreffer für Mönchengladbach erzielte. Die Borussia war erstmals Pokalsieger geworden.

 5. Jupp, du selber warst als Spieler sehr vielseitig, schnell und torgefährlich. Hast du das erlernen müssen oder war das einfach ein Talent?

 Heynckes: Talent allein reicht nicht. Wer in die absolute Spitze aufsteigen will, braucht außerdem ungebrochenen Ehrgeiz und Willen, die totale Leidenschaft, Biss und das absolute Erfolgsstreben. Bei mir kam noch ein enormes Maß an Demut und Dankbarkeit hinzu: Weil ich in dieser entbehrungsreichen Nachkriegszeit aufgewachsen war, wusste ich zu schätzen, welche Möglichkeiten mir der Fußball eröffnete. Ich konnte mich nach oben arbeiten. Und dann wirkten sich noch meine Gene förderlich aus: nie zufrieden zu sein; immer das nächste Ziel anzupeilen; immer mehr zu wollen. Diese Eigenschaften trugen mich durch mein ganzes Leben.   

 6. Beeindruckend. Denn das erklärt deinen Erfolg, das erklärt deine Persönlichkeit. Respekt. Für dich ging es nach deiner Kindheit vom Bolzplatz in prall gefüllte Stadien. Inwiefern verliert man seine Leichtigkeit vom Bolzplatzkind als Profifußballer dann irgendwann?

 Heynckes: Diese Leichtigkeit darf ein Fußballspieler - trotz aller Vor- und Aufgaben innerhalb eines Mannschaftsgefüges, trotz aller taktischen Zwänge - nie einbüßen, sonst erstarrt sein Spiel in Routine. Den Spaß und die Begeisterung am Umgang mit dem Ball, die Spontaneität, den natürlichen Spieltrieb legt ein großer Spieler nie ab. Bestes Beispiel ist heute Lionel Messi, den noch immer diese kindliche Freude am Fußball auszeichnet. Ich erinnere mich an die Saison 1964/65, als wir mit Borussia Mönchengladbach mit 92:39 Toren und 52:16 Punkten Meister der Regionalliga West wurden und in die Bundesliga aufstiegen: Es war ein Traumjahr, wir spielten ungezwungen Fußball und tobten uns aus wie auf dem Bolzplatz. Diese Beziehung zum Fußball als Spiel erhielt ich mir meine ganze Karriere. Für mich stand immer das Fußballspielen im Mittelpunkt, nie das Geld. Daraus zog ich meine Befriedigung.

 7. Was für eine Erkenntnis. Die Leidenschaft als Antrieb zu sehen und nicht das Geld. Jupp, du hast im Fußball alles gewonnen, was man gewinnen kann. Ob als Spieler oder Trainer. Welche Erfolge waren privat deine größten?

 Heynckes: Ich habe eine wunderbare Familie gegründet, in Iris die Frau fürs Leben gefunden, meine Tochter Kerstin ist ein Traum: Ich bin ein glücklicher Mensch.

 8. Du hast das eben schon einmal angesprochen. Ich möchte noch etwas tiefer eintauchen in deine Erfolgswelt. 2012 bist du mit dem FC Bayern in allen drei Wettbewerben „nur“ Zweiter geworden. Ein Jahr später holst du dann das Triple. Das ist kein Zufall. Welche Eigenschaften brauchtest du im Leben, um erfolgreich zu sein?

 Heynckes: Ehrgeiz, Willen, Beharrlichkeit. Nie zufrieden zu sein. Fairness, die ehrliche Anerkennung, wenn ein Gegner besser war. Den rationalen Umgang mit großen Niederlagen, die professionelle Verarbeitung bitterer Rückschläge wie zum Beispiel das Finale dahoam mit Bayern München 2012. In solchen Extrem-Situationen habe ich immer eine Jetzt-erst-recht-Mentalität entwickelt und gekämpft, daraus zog ich umso mehr Kraft und Motivation. Es ist aber auch wichtig und hilfreich, uneitel zu sein, sich persönlich nicht zu wichtig zu nehmen, möglichst in allen Lagen bescheiden und sachlich zu bleiben und mit Erfolg nüchtern umzugehen.   

 9. Unglaublich, du bist ein echter Kämpfer. Sich selber nicht so wichtig zu nehmen ist auch großartig. Gefühlt geht es in der heutigen Zeit immer mehr um Egos. Du zeigst, dass es anders geht. Welcher war eigentlich der größte Fehler in deiner Spielerkarriere und welcher als Trainer?

 Heynckes: Vielleicht war ich manchmal zu ehrgeizig und zu verbissen … in beiden Fällen.

 10. Vielen Dank für deine authentischen und teils auch sehr persönlichen Antworten, Jupp. Nun versteht man, warum du so erfolgreich geworden bist. Ich habe großen Respekt vor deiner Lebensleistung. Eine Frage möchte ich dir noch stellen: Du bekommst ein Mikrofon und die ganze Welt hört dich. Du hast genau einen Satz, den du sagen darfst. Wie lautet er?

 Heynckes: Ich habe die Hoffnung noch nicht aufgegeben, dass wir Menschen uns gegen die Klimakatastrophe und die drohende Zerstörung unseres Planeten solidarisieren, dass wir das dringend nötige Bewusstsein für unsere Umwelt entwickeln und insgesamt doch noch einen respektvollen sowie humanen Umgang miteinander verinnerlichen und pflegen.

 Das Interview führte Henoch Förster, Geschäftsführer der Bolzplatzkind GmbH aus Hamburg.

 
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